Offener Brief der Rroma Familien im Görlitzer Park, bezüglich der drohenden Wegnahme ihrer Kinder

an die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann, den Bezirksstadtrat Peter Beckers, den Sozialstadtrat Knut Mildner – Spindler, die übrigen Mitglieder des Bezirksamtes und die Mitarbeiter*innen des Jugend- und Sozialamts Friedrichshain-Kreuzberg

Berlin, 23.9.2014

Das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg droht obdachlosen Familien im Görlitzer Park und der Cuvry-Brache mit der Inobhutnahme ihrer Kinder

(“offener Brief” als PDF) (wenn ihr diesen Brief mit eurer Unterschrift unterstützen wollt, mailt an case-pentru-toti@riseup.net)

Am Dienstag, den 16.9. erschienen am Morgen Mitarbeiter*innen des Jugendamts und des Gesundheitsamts Friedrichshain-Kreuzberg bei den Familien im Görlitzer Park und in der Cuvry- Brache. Nach Angaben der Familien im Görlitzer Park gaben sie zunächst vor, den Familien mit ihren Kindern u.a. bei Fragen der Einschulung und ähnlichen Belangen helfen zu wollen. Daraufhin zeigten die Familien ihnen im Vertrauen wie erbeten ihre Pässe. Auf ihre Nachfrage, worin die ihnen angebotene Hilfe denn konkret bestehe, erklärten ihnen die Mitarbeiter*innen des Jugendamtes, es handle sich um eine „Inobhutnahme” der Kinder. Sie händigten ihnen ein entsprechendes Schreiben aus. Daraus folgender Auszug:

„Wir werden in wenigen Tagen wiederkommen. Sollten Sie dann immer noch mit ihren Kindern im Park leben und übernachten, werden wir Ihre Kinder in Obhut nehmen, das heißt, sie werden von Ihnen getrennt und in einer Unterkunft, in der sie genügend zu essen und zu trinken und einen trockenen Schlafplatz haben, untergebracht. (…) „Wir wissen, dass Sie für sich und Ihre Kinder dringend eine Wohnung brauchen. Aber wir können keine Wohnung für Sie beschaffen. (…) Die weiteren Entscheidungen treffen dann die zuständigen Jugendämter und Familiengerichte.”

Dies alles versetzte die Familien in große Angst und Sorge.
Dass den Familien – in dem Wissen, dass sie so kurzfristig keine Unterkunft finden können und ohne dass ihnen irgendeine Hilfe angeboten wird – gedroht wird, ihnen die Kinder wegzunehmen, ist besonders perfide.

Die Familien leben zum größten Teil seit einem oder mehreren Jahren im und am Görlitzer Park. Dem Bezirksamt ist dies bekannt. Bei einer Diskussionsrunde anlässlich der Veranstaltung „Unser Görli“ vor zirka einem Jahr konnte sich Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann selbst einen Eindruck von den Wünschen und Sorgen der Familien verschaffen, die ausdrücklich um Hilfe baten und deutlich machten, dass sie gekommen sind, um zu bleiben. Monika Herrmann erklärte damals, Roma-Familien seien in Kreuzberg willkommen. Sie versicherte ihnen, das Bezirksamt ergreife auch angesichts der Obdachlosigkeit der Familien nicht, wie anderswo üblich, Maßnahmen wie die „Inobhutnahme“. Ihnen sei bewusst, dass die Familien trotz ihrer Situation für ihre Kinder sorgen könnten und es bestehe auch die Möglichkeit, sie zur Schule zu schicken. Der TAZ gegenüber erklärte Monika Herrmann am vergangenen Mittwoch, es bestehe jetzt Handlungsbedarf. Der Bezirk schicke seit Jahren Familienhelfer und Sozialarbeiter. Es mangele jedoch am Engagement der Eltern.

Die einzige offizielle Unterstützung, die die Familien erhalten, besteht in der Sozialarbeit von „Südosteuropa-Kultur e.V.“. Die wenigen Mitarbeiter*innen sind für sechs Bezirke zuständig, sodass eine reelle Unterstützung der Familien nicht gewährleistet werden kann. Besonders erschwerend wirkt sich für die Familien das ausnahmslos restriktive Verhalten von Jobcentern und Sozialämtern aus.
Jeder Anspruch muss beim Sozialgericht erst eingeklagt werden.
Das alles trifft auch für die Familien zu, die jetzt durch die Räumung der Cuvry – Brache vollends obdachlos gemacht wurden. Denn zudem gibt es in Berlin keine einzige familiengerechte Notübernachtung. Dass die Familien im Görlitzer Park in dem ihnen ausgehändigten Schreiben aufgefordert werden, sich selbst eine Unterkunft zu besorgen, das Bezirksamt könne dies nicht leisten, wirkt in diesem Kontext nur zynisch.

Das Problem besteht also de facto in den völlig unzureichenden Unterstützungs- und Beratungsangeboten von Bezirk und Senat und nicht in den angeblich mangelnden Bemühungen der betroffenen Eltern. Es gelingt den Familien sogar teilweise trotz der widrigen Lebensumstände, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Eine Situation, die eine Inobhutnahme rechtfertigen würde, ist nicht
gegeben. Auch von Fachleuten wird eine solche Maßnahme in diesem Fall als absolut unangemessen und gefährlich eingeschätzt, da sie die Kinder traumatisiert.

Die Aktion vom Bezirksamt ist unter diesen Voraussetzungen als eine Drohung zu bewerten, die auf die Vertreibung der Familien aus Kreuzberg abzielt. Statt die Familien in ihren Bemühungen um ein menschenwürdiges Leben, insbesondere eine familiengerechte Unterkunft, zu unterstützen, versucht das Bezirksamt sie auf diese Weise zu zwingen, den Park und seine Umgebung zu verlassen. Nach den Drangsalierungen der vergangenen Wochen – nächtliche Patrouillen des
Ordnungsamts und der Polizei, bei denen die Schlafenden, einschließlich der Kinder, geweckt, rassistisch beleidigt und schikaniert werden, Abschleppen der Autos, Wegnahme und Entsorgung ihrer persönlichen Sachen – wird jetzt anscheinend auf ein noch wirksameres Mittel in Form einer existentiellen Bedrohung der Familien gesetzt. Eine Rolle spielen hier auch zunehmende Aktivitäten von Anwohner*innen, die sich gegen die Anwesenheit der Familien im Park richten. Der TAZ gegenüber benannte Monika Herrmann diese, u.a. Anzeigen wegen Kindeswohlgefährdung, als einen der Gründe, die das Jugendamt zu seiner Vorgehensweise veranlassten.

Diese repressiven Maßnahmen erinnern an das Vorgehen deutscher Behörden gegenüber Sinti und Roma in den vergangenen Jahrhunderten. So muss ein solches Vorgehen auch im Zusammenhang mit den aktuellen Gesetzesänderungen – dem Gesetzespaket gegen sogenannte „Armutszuwanderung“ und der Asylgesetzverschärfung vom vergangenen Freitag – begleitet von den entsprechenden medialen Debatten, als weiterer Schritt der Ausgrenzung von Roma und als Roma wahrgenommenen Menschen in Deutschland angesehen werden. Politiker*innen aller Parteien betonen häufig die besondere historische Verantwortung gegenüber Sinti und Roma. Von einer solchen Verantwortung ist derzeit in Kreuzberg nicht viel zu spüren.

Wir verurteilen das repressive Vorgehen der Behörden und fordern:
1. die Zusicherung, dass die Kinder bei ihren Familien bleiben können und die sofortige Rücknahme der Androhung einer „Inobhutnahme“!
2. die Familien in ihrem Sinne zu unterstützen!
3. Unterkünfte und längerfristig eine reale Perspektive auf selbstbestimmtes Wohnen für die Familien!
4. dass Rassismus der Kampf angesagt wird!
5. dass Armut bekämpft wird statt von Armut Betroffene!

Die Familien im Görlitzer Park und die Unterstützungsgruppe

Kontakt:
case-pentru-toti@riseup.net
0152-13640124