http://www.noborder.org/archive_item.php%3Fid=300.html
Das Unterbringungs- und Versorgungssystem für Flüchtlinge in der BRD lässt sich als institutionalisiertes rechtliches System der Ausgrenzung und der gewollten Herabsetzung des sozialen Lebenstandart beschreiben, als System der forcierten gesellschaftlichen Desintegration. Neben dem de facto Ausschluss vom regulären Arbeitsmarkt und der Auszahlung der dadurch nötig werdenden (gekürzten) Hilfe zum Lebensunterhalt in Form von Sachleistungen ist die Unterbringung in dezentralen Heimen zentrales Moment der räumlichen Ausgrenzung und Verbannung. Das Spezifische an den bundesdeutschen Lagern ist, dass es nur als dezentrales Lagersystem fassbar wird. Zum System werden die einzelnen Unterbringungsstätte durch die Kombination halb offener – die Menschen können immer in die Illegalität abtauchen – dezentraler Kleinlager, die durch ein Verwaltungssystem verbunden sind und in sich nach Abstufungen der Repressionen klassifizierbar sind, also von der Pension in der Großstadt, über die Gemeinschaftsunterkunft verlassen im Wald, den neuen Ausreisezentren und den Abschiebeknästen. Insgesamt fasst das dezentrale Lagersystem der BRD fast eine Millionen Menschen. Zentrale Grundstruktur des Lagersystems ist die Residenzpflicht, erst durch die Zerteilung des Raumes und dem räumlichen Festhalten der Menschen in den Landkreisen wird das einzelne Heim zum Teil des Lagersystems. Es ist also eine repressive Struktur, deren räumliche Ausformung das einzelne (Flüchtlings-)Lager ist, als Gesamtsystem bedeutet es eine Ausgrenzungsstruktur ökonomisch nichtverwertbarer Menschen an durch die Residenzpflicht eingegrenzten Orten mit unterschiedlichen Repressionsgraden, an deren Ende immer die potentielle die Abschiebung und damit der völlige Ausschluss aus der BRD steht.
Erst durch die Residenzpflicht werden die einzelnen Gemeinschaftsunterkünfte als (Flüchtlings-)Lager beschreibbar. Lager als Begriff bedeutet eine provisorische kurzfristige Unterbringungsstätte für viele Menschen auf engem Raum. Es bietet sich also der Begriff des Flüchtlingslagers als verallgemeinerbare Beschreibung der einzelnen Unterbringungsstätten an. Ansonsten würde ich dezentrales Lagersystem benutzen oder die konkrete Beschreibung der Orte, also Ein- oder Ausreiselager, Abschiebegefängnis, großes Flüchtlingsheim. Der Begriff des »Lagers« (ohne Zusatz) dient nämlich sonst nur einer Skandalisierung und spielt mit den gesellschaftlichen Assoziationen der NS-Zeit und hier ist eine inhaltliche Differenzierung zentral. Es ist meiner Meinung nach immer sinnvoll, die empirischen Tatsachen möglichst genau zu beschreiben und sie auch so, wie sie vorfindbar sind, zu benennen. Und das dezentrale Lagersystem der BRD ist in seiner Struktur repressiv genug um es als solches zu skandalisieren und um für dessen Abschaffung zu kämpfen.
Das Lagersystem an sich ist im Rahmen eines rassistisch motivierten Diskurses über Flüchtlinge Ende der 70er entstanden. Um die Flüchtlinge abzuschrecken und um innenpolitisch zu Punkten wurde die soziale Situation mit viel Geld abgewertet. Die Dezentralität entstand aus ökonomischen Gründen um nach dem AnwerberInnenstopp 1973 der Wirtschaft billige Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Hierbei ist zuerst die dezentrale Unterbringung und dann fünf Jahre später die Lagerunterbringung installiert worden. Die Struktur des Lagersystems ist dann verwaltungstechnisch ausgebaut und aufgestockt worden auf über 1 Millionen Menschen Mitte der 90er. Parallel zur Installation des dezentralen Lagersystems ist es zu einer Umstrukturierungen der Ökonomie gekommen, so dass sich die heutige ökonomische Funktion des Lagersystems aus der Einbettung in die postfordistischen Produktionsverhältnisse ergibt. Beschreibbar ist diese ökonomische Funktion als Scharnier- oder Pufferfunktion zwischen regulären und irregulären Sektoren des ethnisch differenzierten Arbeitsmarktes. In Regionen mit einem hohen Arbeitskräftebedarf arbeiten fast alle Flüchtlinge wie z.B. in Baden-Württemberg und viele Flüchtlinge aus den östlichen Bundesländern migrieren in den Süden / Westen der BRD um dort irregulär zu arbeiten.
In dem Sinne finde ich eine Ausweitung des Lagerbegriffs auf generelle Segregationserscheinungen oder –mechanismen der Gesellschaft falsch, da so die Spezifik aus Kombination räumlicher Orte zum Festhalten und der gesetzlichen Abwertung, der damit verbundenen Entrechtung und Ausschluss von gesellschaftlicher Partizipation des dezentralen Lagersystems verwässert. Der Begriff der Lagerstruktur wird so beliebig und verliert seine analytische Schärfe in der Beschreibung von empirischer Realität.
Dennoch gibt es Schnittpunkt zu anderen Ausgrenzungsmechanismen, die aber nicht als Lager gefasst sondern auch in ihrer Spezifik beschrieben werden sollten. Rahmenbedingung des dezentralen Lagersystems ist die BRD als kapitalistische Ökonomie und die gesetzlichen Grundlagen des materiellen Asylrechtes bilden die generelle gesetzliche Struktur der Abwertung und Entrechtung von MigrantInnen. Hierbei geht es auf der einen Seite immer um die Bereitstellung entrechteter und so billiger Arbeitskräfte und auf der anderen Seite gleichzeitig um die in der BRD innenpolitische Effektivität rassistischer Argumentationen und deren Instrumentalisierungen. Das dezentrale Lagersystem bildet also die repressive Ausführung der Ausländergesetze und gleichzeitig wird über die so geschaffenen Bilder rassistische Politik begründet und gemacht. Einen direkten Schnittpunkt gibt es also zu den ArbeitsmigrantInnen, zu den Menschen ohne Papiere, die eine Möglichkeit haben, in der »Illegalität« zu überleben. Sobald diese an die Öffentlichkeit treten, werden sie über den Status der Duldung in das Lagersystem gezogen, an dessen Ende immer die potentielle Abschiebung steht. Auch wenn die Unterscheidung, zu fliehen oder um zu arbeiten zu migrieren, subjektive zentral ist, gibt es in der BRD de facto kein materielles Asylrecht mehr, zentral ist die ausländerrechtliche repressive Struktur der Entrechtung und diese betrifft alle potentiell in die BRD kommenden, egal ob als Flüchtlinge oder als außereuropäische MigrantIn.
Dies ist wiederum eine Stelle, an dem es Punkte einer breiteren gesellschaftliche Vernetzung geben kann. Politik der derzeitigen neoliberalen Umstrukturierung ist die ökonomische Deregulierung und der Abbau sozialstaatlicher Sicherungsnetze. Dadurch werden sowohl bereits hier lange lebende MigrantInnen als auch Passdeutsche vermehrt in die irregulären Sektoren des Arbeitsmarktes gedrängt. Es entsteht zwar keine direkte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt – es kommt eher zu einer allgemeinen Lohnsenkung – diskursiv wird aber über das Schüren einer vermeindlichen Konkurrenz rassistische Scheidelinien gezogen und ein scheinbar deutsches Kollektiv gegenüber den in ihrer Wertigkeit ethnisch differenzierten MigrantInnen konstituiert. Hier liegt meiner Meinung nach die Chance einer inhaltlichen Vernetzung. Nicht in der gleichzeitigen Thematisierung von Ausgrenzung, denn dies ist nicht Ziel der Tour und würde der Repressivität des dezentralen Lagersystems nicht gerecht werden, sondern in der Tatsache, dass es eine allgemeine Deregulierung sozialer Verhältnisse gibt und es also im Sinne der HERRschenden ist, das die Betroffenen je einzelnd für ihre Partialinteressen kämpfen. Eine angestrebte Vernetzung wäre also eine Aufforderung an die Sozialforen, mit gegen das dezentrale Lagersystem zu kämpfen und so eine gemeinsame Organisierung zu forcieren um so insgesamt den Kampf gegen die kapitalistische Verwertungslogik voranzutreiben. Also Rassismus als ein HERRschaftsisntrument zu thematisieren und zu bekämpfen durch solidarische Unterstützung der Tour mit dem Ziel des Aufbaus einer gemeinsamen Widerstandsstruktur.
Tobias Pieper (2004)