Statement der Kampagne „BLEIBERECHT FÜR ALLE statt Chancenfalle!“
von Netzwerk der Kampagne “BLEIBERECHT FÜR ALLE – statt Chancenfalle!”
Die Bundesregierung plant bis Ende 2023 in insgesamt vier Gesetzespaketen ihre migrations- und flüchtlingspolitischen Versprechungen des Koalitionsvertrags von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP umzusetzen. Am 6.7.2022 hat das Bundeskabinett das erste dieser sogenannten Migrationspakete beschlossen. Ein Gesetz soll den Zugang zum Bleiberecht für lange in Deutschland lebende geduldete Geflüchtete erleichtern und die Praxis der Kettenduldungen beenden. Aber, wenn der Gesetzentwurf der Bundesregierung so wie er jetzt ist verabschiedet wird, werden viele – genau wie bisher – keine Chance auf ein Aufentshaltsrecht haben.
Denn der Gesetzentwurf schließt Flüchtlinge wegen kleinster Straftaten, die bei anderen Bürger*innen noch nicht einmal in ein polizeiliches Führungszeugnis kämen, vom „Chancen-Aufenthaltsrecht“ aus. Auch Flüchtlinge, denen die Behörden unterstellen, dass sie absichtlich keine Dokumente zur „Identitätsklärung“ besorgt haben, werden vom „Chancen-Aufenthaltsrecht“ ausgeschlossen.
Und auch für Jugendliche und junge Erwachsene bleiben die Verbesserungen zu klein: Kinder bis 14 Jahren und ihre Familien bleiben weiterhin pauschal von den Bleiberechtsregelungen ausgeschlossen. Sie müssen weiter mit rechtlichen Teilhabehindernissen und der Angst vor einer Abschiebung leben. Aus den bisherigen Bleiberechtsregelungen geblieben sind auch die hohen Anforderungen an „Schulerfolg“, die die besondere Situation geflüchteter junger Menschen kaum berücksichtigen.
Echte Chancen sehen anders aus. Deshalb fordern wir von den Gesetzgeber*innen ein ECHTES CHANCEN-AUFENTHALTSRECHT FÜR ALLE und zwar JETZT!
Echte Chancen passen nicht zu diskriminierenden Ausschlussgründen.
Denn die Ausschlussgründe liefern Schutzsuchende der Behördenwillkür aus: An einigen Orten gelten Asylsuchende nur wegen des Verstoßes gegen die Passpflicht bereits als Straftäter*innen – an anderen Orten wird die Einreise ohne Pass weniger kriminalisiert.
Die Verknüpfung von Strafrecht mit Aufenthaltsrecht ist grundsätzlich diskriminierend und verstößt gegen Rechtsstaatsprinzipien. Während für deutsche Bürger*innen das Strafsystem einen neuen Anfang ermöglicht, werden bei Ausländer*innen kleinste und verjährte Straftaten aus der Ausländerakte nie gelöscht und können lebenslang aufenthaltsrechtliche Konsequenzen haben. So werden Migrant*innen und Asylsuchende immer mehrfach bestraft und kontrolliert.
- Strafrecht und Ausländerrecht müssen grundsätzlich getrennt werden und die Kriminalisierung von Migration abgeschafft werden. Auch die Überwachung von Migrant*innen (§87 AufenthaltsG) muss abgeschafft werden.
Echte Chancen dürfen nicht vom Pass oder anderen Dokumenten abhängen.
Die Ausländerbehörden gehen oft willkürlich mit der Frage um, ob jemand seine Identität ausreichend geklärt hat. Oft unterstellen sie, dass Schutzsuchende aus Angst vor der Abschiebung ihre Identität verschweigen, obwohl viele Asylsuchende einfach keine Dokumente besorgen können, die ihre Identität beweisen.
Im deutschen Aufenthaltsrecht gilt grundsätzlich: Papiere sind wichtiger als Menschen. Mit diesem Prinzip blockieren die Behörden den Familiennachzug, verhindern Ehen und Partnerschaften, verschleppen die Aufnahme von afghanischen Ortskräften und trennen Familien durch Abschiebungen. Diese Pflicht Dokumente einzureichen, die den hohen Anforderungen der deutschen Behörden genügen, nimmt vielen Menschen ihre Lebenschancen. Und oft nicht nur ihnen sondern auch ihren Familien, die auf ihre Unterstützung warten.
- Die Anforderungen an Dokumente müssen an die Realitäten von Flucht angepasst werden.
Echte Chancen sind keine Falle.
Laut Gesetzentwurf sind alle Schutzsuchenden, die es nicht schaffen innerhalb von einem Jahr alle Anforderungen für eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis zu erfüllen, mehr als zuvor von Abschiebung bedroht. Denn nun haben sie den Ausländerbehörden Dokumente zu ihrer „Identitätsklärung“ gegeben, die für ihre Abschiebung benutzt werden können.
- Abschiebungen sind Menschenrechtsverletzungen und müssen abgeschafft werden.
Echte Chancen müssen realisierbar sein.
Das Leben mit Duldung bedeutet jahrelange Ausgrenzung, oft erzwungene Untätigkeit und Perspektivlosigkeit. Das hinterlässt psychologische Spuren. Wie sollen Geduldete nun innerhalb von 12 Monaten eine Arbeit finden und Deutsch lernen?
- Ein „Chancen-Aufenthaltsrecht“ soll für drei Jahre erteilt werden, um genug Zeit bereitzustellen sich neue Perspektiven zu erarbeiten.
- Außerdem müssen alle Geduldeten umfassend von den Behörden über ihre Möglichkeiten informiert werden und es soll flächendeckend staatlich finanzierte unabhängige Beratung angeboten werden.
- Grundsätzlich müssen Bleiberechtsregelungen weg von der Vorstellung einer „guten Integration“. Sie ist zu eng für eine inklusive und pluralistische Gesellschaft. Die Arten, in dieser Gesellschaft anzukommen, sich zu engagieren und einzubringen sind so vielfältig wie die Menschen, die hier leben. Die Möglichkeit zur Teilhabe und Mitbestimmung in einer Gesellschaft darf nicht allein von Leistung abhängig gemacht werden. Die Trennung von Migrat*innen und dem Zweck der Migration soll aufgehoben werden. Alle Aufenthaltstitel sollen für jeden Menschen zugänglich sein.
Echte Chancen ermöglichen Teilhabe, statt sie zu verhindern.
Während die Chance auf einen gesicherten Aufenthalt davon abhängt, ob geflüchtete Menschen Arbeit oder eine Ausbildung finden, wird vielen Menschen genau das in Deutschland verboten. Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag versprochen, die Arbeits- und Ausbildungsverbote abzuschaffen – im aktuellen Gesetzentwurf ist dazu aber nichts zu finden. So machen die Gesetze Teilhabe an der Gesellschaft und damit eine sogenannte „Integration“ unmöglich.
- Wir brauchen Arbeits- und Ausbildungserlaubnisse für alle.
Echte Chancen müssen auch für die Familien gelten.
Jahrelange Wartezeiten auf Termine bei den deutschen Botschaften und auf die Bearbeitung von Visumanträgen für den Familiennachzug, das Festhalten an der A1 Sprachprüfung, Forderungen nach Dokumenten, die schwer oder gar nicht zu beschaffen sind… Die deutschen Botschaften blockieren Familienzusammenführungen, auch wenn theoretisch ein Rechtsanspruch besteht.
- Die Bariere der A 1 Prüfung im Ausland muss endlich abgeschafft werden. Außerdem brauchen wir unbürokratische und schnelle Online-Visaverfahren, die Anerkennung alternativer Nachweise der Familienzusammengehörigkeit und einen über die Kernfamilie hinausgehenden Familienbegriff.
Echte Chancen sind bedingungslos.
Wir wollen ein stichtagsunabhängiges „Chancen-Aufenthaltsrecht“ für alle, die bereits in Deutschland leben, auch für diejenigen, die vor Jahren aus Angst vor Abschiebung untergetaucht sind oder aus anderen Gründen illegalisiert leben. Denn sie alle leben und arbeiten in Deutschland und ihre Situation ohne Papiere macht sie ausbeutbar und verletzlich.
Über uns, das Kampagnennetzwerk
Wir sind ein neu gegründetes Netzwerk von (flüchtlings-)politischen Initiativen, Gruppen, Organisationen,Vereinen und Einzelpersonen, die sich in antirassistischen Aktionen in Berlin und Brandenburg kennengelernt haben.
Aktuell dabei sind:
Allmende e.V., Bantabaa e.V., Barnim für Alle, Berliner Gruppe Sea-Eye e.V. , BumF – Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V., Die Urbane. Eine HipHop Partei, Ende Gelände Berlin, Flüchtlingsrat Brandenburg, Frauenkreise Berlin, Initiative ZusammenLeben e.V., Jugendliche ohne Grenzen, Kontakt- und Beratungsstelle für Flüchtlinge und Migrant_innen e.V., Migrationsrat Berlin, No Border Assembly, Refugees with Attitudes, Seebrücke, Wearebornfree! Empowerment Radio (We!R), We’ll Come United Berlin-Brandenburg, Women in Exile & Friends.
Wir greifen den Begriff „Chancen-Aufenthaltsrecht“ der Bundesregierung auf und informieren Gesetzgeber*innen und die Öffentlichkeit darüber, was wir aus der Perspektiven von Betroffenen, von Fachorganisationen und solidarischen (flüchtlings-)politischen Initiativen unter echten Chancen verstehen. Außerdem wollen wir auch die weiteren Migrationspakete der Bundesregierung kritisch kommentieren. Wir entwickeln unsere Positionen und Forderungen geminsam im Netzwerk weiter und werden damit auf die jeweiligen Gesetzentwürfe reagieren.